Anrede
Vor fast siebzig Jahren, im Dezember 1948, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.“ Drei Jahre waren seit Ende des Zweiten Weltkriegs verflossen, in dem „Akte der Barbarei das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllten.“ Rund 50 Millionen Menschen, unter ihnen mehr als fünf Millionen Juden, waren dem Wahnsinn von aggressivem Nationalismus, von Imperialismus, Rassismus und innenpolitischem Totalitarismus zum Opfer gefallen. Der ganze Planet war verrückt geworden.
„Verrückt“ ist natürlich keine politikwissenschaftliche oder juristische Kategorie. Die Autoren der Menschenrechtserklärung hatten sich die Mühe gemacht, die normativen, totalstaatlichen Entgleisungen der kriegstreibenden Nationen im Vorfeld der genozidalen Massenmorde zu analysieren und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Ihr philosophisch-anthropologischer Ausgangspunkt war die ganz offensichtlich nicht weiter zu bezweifelnde These, dass allen Menschen die Freiheit gebührt. Aber ohne eine sanktionsbewehrte staatliche Rechtsgarantie bleibt es bei der These.
In der Präambel heißt es folgerichtig, dass „Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not“ unter die „Herrschaft des Rechtes“ zu stellen sind. Dass mit der Rede- und Glaubensfreiheit ein Grundrecht an die prominenteste Stelle der Präambel gestellt wurde, war und bleibt folgerichtig. Denn wo die Kritik an den Machenschaften der Herrschenden unterbunden wird mit all den Möglichkeiten, die zumal Polizeistaaten zur Verfügung stehen, wo von der Zensur bis zum Terror alles unternommen werden kann, was dem Machterhalt der Gewählten oder Nichtgewählten an der Staatsspitze dient, gleitet jeder Staat – ob Demokratie, ob Monarchie oder Einparteien-Republik – früher oder später ab in Unterdrückung, Unfreiheit und soziales Elend, wenn nicht gar in Krieg. Wenn aber der beste Schutz vor derlei Verfallserscheinungen in der Unbestechlichkeit der Justiz besteht, dann können wir bereits aus Symptomen einer korrupten Rechtsprechung schlussfolgern, wohin die Reise geht. Der Sachverhalt, dass zum Beispiel über 50.000 Türken derzeit als politische Gefangene festgehalten werden, lässt uns fragen, was aus der türkischen Gerichtsbarkeit geworden ist. Wir Deutschen brauchen nur in unsere eigene Geschichte schauen, um uns größte Sorgen über die Zukunft der Türkei zu machen – von der Justiz in Syrien ganz zu schweigen.
Wer aber behauptet, aus der Geschichte zumal des 20. Jahrhunderts sei nichts zu lernen, kann sich in diesen Tagen in den populistisch gestimmten Staatskanzleien von Ankara, Budapest, Warschau oder Washington um eine Anstellung bewerben. Dort wäre er unter Seinesgleichen.
Präsident Donald Trump hat die Vereinigten Staaten in dieser Woche aus dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen abberufen. Er bezeichnete ihn als eine „Jauchegrube.“ Warum denke ich an dieser Stelle an das alte Sprichwort „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“?
An Trumps Sprache ist der Hang zur diktatorischen Missachtung diplomatischer Gepflogenheiten zu erkennen, deren Pflege zur Tradition von allfälligen Konfliktvermeidung zählt. Trump weiß das nicht. Er ist, um es deutlich zu sagen, diplomatisch dumm und historisch ungebildet. Amerikas demokratisches Glück ist es allerdings, dass die amerikanische Presse nicht zögert, Trumps habituelle Lügenhaftigkeit beim Namen zu nennen. Die Washington Post führt Buch über die täglichen Lügen des Präsidenten und zählt inzwischen mehr als 3000. Im medialen Alltag der seltsamen, obsessiven Twitter-Präsidentschaft scheint immer noch die Ursprungsgeschichte dieser ersten Republik der Neuzeit geradezu tröstlich auf: Die amerikanische Revolution von 1776 entzündete sich vor allem an den Zensurmaßnahmen der britischen Kolonialverwaltung, die darauf beharrte, dass jede Zeitung mit einem Stempel staatlicher Zustimmung zu erscheinen hätte. Dass war genau eine Verordnung zu viel.
Wer an die universalen Normen der Menschenrechte glaubt, der darf den syrischen Journalisten und Rechtsanwalt Mazen Darwish und seine Frau Yara Badr zu den aufgeklärten Verteidigern der Pressefreiheit zählen, die für ihre Standfestigkeit ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Sie zu ehren, ist in Wirklichkeit eine Ehre für uns alle.
Artikel 5 der Menschenrechtserklärung verlangt: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Als hätte die Schergen des Regimes von Baschar al Assad in Damaskus diesen Artikel zum Hohn als Gebrauchsanleitung zur Hand genommen, nahmen sie den jungen Journalisten Mazen Darwish in seinem „Syrian Center for Media and Freedom of Expression“ im Juni 2008 zum ersten Mal fest. Es folgten vier weitere Verhaftungen, stets unter dem Vorwand des „Terrorismus“ – also der Opposition gegen das Regime. Ähnliche Staatsexzesse beobachten wir derzeit in der Türkei. Mazens letzte Verhaftung drohte in der Tat die letzte gewesen zu sein. Danach drohte ihm Tod unter Folter.
Seine syrische Schwesterorganisation von „Reporters without Borders“ hatte sich den Unwillen des Assad-Systems zugezogen, weil sie im Jahr 2007 über einen Arbeiteraufstand in einer Vorstadt von Damaskus berichtet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten die drei syrischen Geheimdienste bereits über 100 Websites gesperrt und den Reisepass von Darwish eingezogen. Dass er seinerzeit nach zwei Wochen wieder freigelassen wurde, interpretierten Beobachter als Zeichen eines einsetzenden Tauwetters in Syriens Diktatur. Das war ein Fehler.
Als Mazen Darwish vier Jahre später für seine Arbeit den hochdotierten Roland Berger-Preis erhielt, konnte er, nunmehr ohne Pass oder Visum, zur Preisverleihung nicht nach Berlin fliegen. Er bedankte sich mit einem live übertragenen Skype-Beitrag für die Ehre. Kurz darauf, im Februar 2012, nahmen Assads Häscher ihn und seine Frau wieder fest. Sie gerieten in die Hände des gefürchteten Nachrichtendiensts der syrischen Luftwaffe. Der überantwortete ihn einem Militärgericht, das geheim tagt und nach Kriegsrecht urteilt. Diesmal drohte ihm wieder einmal der Tod. Mazens Frau Yara Badr wurde nach drei Monaten wieder entlassen – fortan widmete sie von Beirut aus ihre gesamte Energie der politischen Unterstützung ihres Mannes.
Sechzehn Mitarbeiter seines Center for Media and Freedom of Expression folgten ihm in die Folterkeller des Regimes. Einer überlebte nicht. Ihr angebliches Vergehen war klar: Sie hatten über die Verhaftungen von regimekritischen Bloggern berichtet, das Schicksal von entführten Journalisten publiziert und an die Weltpresse weitergegeben.
Zwischen 2011 und 2015 wurden im syrischen Saydnaya-Gefängnis laut Amnesty Internationalbis zu 13.000 Menschen ermordet. In einem anderen Gefängnis auf dem Luftwaffenstützpunkt in Mezzeh wurde Darwish mit Elektroschocks gefoltert, an den Händen aufgehängt, geschlagen , bis er tot zu sein schien und zu anderen Leichen geworfen wurde. Schlafentzug, Waterboarding, Kälteschocks – die Methoden, unschuldigen Menschen unter Folter Geständnisse zu entlocken, die auch den Folterern selbst höchst unwahrscheinlich vorkommen müssen, lassen nur einen Schluss zu: Hier, unter den Vollzugsbeamten, können Sadisten ihren Perversionen freien Lauf lassen. Auch dies haben wir aus der Geschichte gelernt.
Es ist an dieser Stelle vielleicht angemessen, darauf hinzuweisen, dass der führende österreichische SS-Verbrecher Alois Brunner nach dem Krieg den Fluchtweg nach Damaskus gefunden hatten, wo er seine polizeilichen Fachkenntnisse wechselnden Regimes zur Verfügung stellte. Der längst bekannte antisemitische Massenmörder, der unter anderem die Überführung der Berliner und Pariser Juden in die Vernichtungslager organisiert hatte, war angeblich jahrelang Mitarbeiter des BND. Er stand offenbar unter dem Schutz des Assad-Regimes bis zu seinem Tod im Jahr 2009 oder 2010. Um es klar zu sagen: An den furchtbaren Polizeitraditionen Syriens trägt die Bundesrepublik zumindest mittelbar und sehr wahrscheinlich historische Mitschuld durch gezielte Fahndungsfehler. Die Mitverantwortung des Putin-Regimes an den totalstaatliche Zuständen Syriens sind unbestreitbar.
Dreieinhalb Jahre lang bis zum Sommer 2015 unterlag Mazen Darwish den Quälereien der Folterknechte von Damaskus. Noch drei Monate vor seiner überraschenden Entlassung hatte ihm der ehemalige SZ-Chefredakteur Werner Kilz anlässlich einer Preisverleihung in Abwesenheit zugerufen: „Wir wünschen Mazen Darwish und seiner Familie, dass er unversehrt bleibt und bald wieder freikommt aus dem Gefängnis. Wir bewundern ihn für seinen Mut. Er hat seine Freiheit verloren, weil er dafür kämpfte, anderen die Freiheit zu erhalten. Dafür danken wir ihm.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Yara Badr Syrien verlassen, erst in Ägypten Unterschlupf gesucht und dann von Beirut aus eine internationale Kampagne unter dem Titel „Hashtag Free Mazen“ organisiert. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits rund 75.00 syrische Frauen und Männer buchstäblich verschwunden – Journalisten, Menschenrechtler, politische Aktivisten, Entwicklungshelfer, Oppositionspolitiker. Der Tag wird kommen, wo man ihre Massengräber entdecken wird und wo der Rest der Welt sich fragen wird, wie das geschehen konnte. Und diese Frage müssen sich auch alle diejenigen in Berlin stellen, die genau wissen, dass sich das Assad-Regime ohne den Beistand von Putins Soldaten und Piloten keine zwei Wochen lang halten würde.
Wir beklagen regelmäßig Russlands schlecht getarnte militärischen Interventionen in der Ostukraine, doch die Bombardierung der ältesten Stadt der Welt, die im Ruin endete, nämlich Aleppo, scheint unsere Politiker nicht sonderlich zu kümmern. Warum nicht? Dass nach jahrelangen Fortschritten in der Beachtung der Menschenrechte ein Niedergang des internationalen Rechts zu beobachten ist, wird mit einer an Zynismus grenzenden Apathie in den westlichen Hauptstädten und Staatskanzleien wahrgenommen. Die so genannte Ursachenbekämpfung bei der Abwehr der Flüchtlingswanderungen scheint sich auf ökonomische und grenzsichernde Maßnahmen zu beschränken. Dass Hunderttausende aber ihre Heimat verlassen, weil sie ihre Hoffnung auf ein Leben in Rechtstaatlichkeit und Freiheit setzen, scheint unseren Wahrnehmungshorizont nicht zu erreichen.
Als Mazen Darwish und Yara Badr vor fast drei Jahren in Berlin ankamen, lag eine abenteuerliche Flucht aus Damaskus über Beirut nach Europa hinter ihnen – und vor ihnen lag das beschwerliche Leben in der Emigration, in einem fremden Land, als Asylanten in einer Gesellschaft, die sich selbst auf den gefährlichen Weg in Fremdenfeindlichkeit und gezielte politische Ausbeutung der so genannten „Flüchtlingsfrage“ machte. Unsere eigene, ein halbes Jahrhundert lang akzeptierte Rolle eines kritischen Journalismus geriet in die Ruf der „Lügenpresse“ – ein Goebbels-Wort.
Mazen Darwish und Yara Badr hingegen arbeiten mit einer bewundernswerten Beharrlichkeit weiter an ihrem Freiheits-Projekt. Aus Syrien wurden ihnen Tausende Dokumente zugestellt, die es der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe erlauben, gegen sechs hochrangige Mitarbeiter des syrischen Regimes Anklage wegen Folterverbrechen zu erheben.
Gestatten Sie, dass ich Mazen Darwish in diesem Zusammenhang zitiere: „Die Borschaft, die von hier ausgeht, ist, dass die Zeit der Straflosigkeit vorbei ist. Gerechtigkeit ist selbst für Syrer möglich. Wir werden wieder als Menschen wahrgenommen.“
Wir müssen uns bei Mazen Darwish und Yara Badr dafür bedanken, dass sie uns daran erinnern, wofür es sich zu leben und als Publizisten, als Künstler und Wissenschaftler zu kämpfen lohnt. Für mich sind die beiden Helden in einer Zeit, die glaubt, auf Helden verzichten zu können. Aber das ist ein Irrtum. Die beiden ragen heraus aus einer sogenannten Kommunikationsdebatte, die sich um Methoden der Wissensvermittlung dreht und sich berechtigte Gedanken darüber macht, ob in der grenzenlosen Datenvermittlung und Datenüberwachung nicht eine diktatorische Überwachung jedes einzelnen Menschen beschlossen ist. Seltsam an dieser Debatte zumal in den Feuilletons ist aber ein gleichsam anthropologisches Defizit: Sie kommt ohne die Geschichte der Journalisten und Anwälte aus, die auf geradezu altmodische Weise ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Idee der Freiheit durch Aufklärung zu retten. Also von Menschen wie Yara Badr und Mazen Darwish.
https://barenboimsaid.de/professor/michael-naumann