Zum Auftakt der diesjährigen Shalomaktion, bei der am 18. Mai 2019 Pfarrer Jozsef Lanko, der sich seit über dreißig Jahren für die Beas, eine Roma-Minderheit in Ungarn, einsetzt, beleuchteten zwei Referenten die Situation der Sinti und Roma in Deutschland.
Vom „lustigen Zigeunerleben“, dem immer zum Musizieren aufgelegten ‚“Zigeuner“ über das gängige und diskriminierende Vorurteil von den stehlenden Sinti oder Roma hat nahezu jede und jeder schon gehört oder selbst solche Stereotype unüberlegt übernommen und weiterverbreitet.
Roberto Paskowski vom Sinti Kultur- und Bildungsverein Ingolstadt berichtete, dass dem Verein die Bildung ein besonderes Anliegen sei. Sie leisten Sozialberatung ebenso wie sie sich um Aufklärung der Mehrheitsgesellschaft bemühen und gegen Diskriminierung und den weit verbreiteten Antiziganismus einsetzen.
In Deutschland und Europa nehmen diskriminierende und rassistische Einstellungen gegenüber sozial benachteiligten Gruppen zu. Auch Sinti und Roma geraten immer mehr in den Fokus rassistischer Ausgrenzung. Dies wird unter anderem durch die Leipziger Autoritarismus-Studie belegt.
Paskowski hatte viele Erlebnisse, die von Verletzung, Grobheit und Ausgrenzung zeugen. Seine Schwägerin zum Beispiel wurde in Ingolstadt eines Lokales verwiesen, allein deshalb, weil sie der Minderheit der Sinti angehört.
Eine Gruppe Sinti, die aus Nord-Rheinwestfalen stammen und in München auf einem Campingplatz Urlaub machen wollten, wurde der Zutritt verwehrt, weil man ‚kein fahrendes Volk’ wolle. Wohl gemerkt, die Familien leben seit vielen Jahren in Reihenhäusern und Wohnungen bei Essen, sprechen selbstverständlich korrektes Deutsch, mit dem Lokaleinschlag des Ruhrgebiets. Roberto Paskowski erzählte im Gespräch wie oft er als Schüler gehänselt und geschlagen wurde, einfach weil er Sinto ist.
Thomas Höhne, wissenschaftlicher Referent des bayerischen Verbandes der Sinti und Roma, der zahlreiche Studien erstellte, spannte einen Bogen von der jahrhundertelangen Diskriminierung der Sinti und Roma, über die Ermordung einer halben Million von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten bis zur unrühmlichen Fortführung der Diskriminierung im Nachkriegsdeutschland.
Wohlweislich ist in Deutschland keine Zählung von Sinti und Roma erlaubt. Aus der furchtbaren Geschichte des Nationalsozialismus hatte man gelernt. Die sogenannte Forschung in der NS-Zeit wurde betrieben, um zu selektieren und schließlich zu ermorden. Der rechtspopulistische italienische Innenminister Salvini hatte, ähnlich wie die afd in Sachsen, eine Zählung von Sinti und Roma gefordert. Dies ist in der Europäischen Union jedoch nicht erlaubt. Im Rahmenübereinkommen zum Schutz von Minderheiten genießen diese Rechte, müssen sich aber nicht zu einer Gruppe zählen lassen, um so vor möglicher Ausgrenzung geschützt zu sein.
Achtzig Prozent aller befragten Sinti und Roma gaben an, sie erlebten Diskriminierung, wenn sie sagten, sie gehörten dieser Minderheit an.
Wie Höhne betonte, gehe das von einer Infantilisierung, etwa der Aufforderung, „tanz doch mal was vor“, über Klischees vom musizierenden Clan bis hin zu rassistischen Behauptungen vom stehlenden und faulen Sinti oder Roma. Behauptungen, die durch nichts gerechtfertigt seien, würden so tradiert.
Wichtig sei hier auch die Bildungsarbeit an Schulen. Leider wüssten viele dort Lehrenden selbst wenig über die Geschichte der Sinti in Deutschland.
Es hatten nur wenige Tausend Sinti und Roma den Völkermord durch die Nazis überlebt. Ihr Leid wurde mitnichten anerkannt. Die meisten Ärzte, die an den Selektionen und der Vernichtung teilnahmen, machten nach dem Krieg Karriere. Gleiches gilt für Angestellte in Jugendämtern.
Den Sinti wurde eine Rückgabe ihres enteigneten Besitzes verweigert. Ein Niederlassen am früheren Wohnort wurde ihnen verboten. Sie wurden –so der Begriff- zu „Verfolgten dritter Klasse“. Sinti und Roma wurden von den Kernbereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Die Sondererfassung der Nationalsozialisten wurde in der Bundesrepublik fortgeführt. Eine besonders unrühmliche Rolle spielte, so Thomas Höhne, hier Bayern. Die Sondererfassung von Sinti und Roma durch die Polizei dauerte bis 2005 an.
Ein Raunen des Entsetzens ging durch den gut besuchten Vortragsraum im Foyer des International House der Katholischen Universität, als Thomas Höhne ein BGH-Urteil aus dem Jahr 1956 zitierte. Hier werden Vorurteile und üble Zuschreibungen wie ‚“Neigung zu Kriminalität, besonders zu Diebstählen“ in einem Gerichtsurteil genannt. Erklärtes Ziel eines solchen Urteils sollte die Vermeidung von Zahlungen an die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus sein. Erst vor drei Jahren entschuldigte sich Jutta Limbach für dieses fortwährende Unrecht durch die deutsche Justiz.
Die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, die stark von der Gesellschaft für bedrohte Völker in den Siebziger Jahren unterstützt wurde, führte unter anderem 1982 zur Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma. Dies erfolgte unter der Regierung von Bundeskanzler Helmut Schmidt. 1995 wurden die Sinti und Roma als deutsche nationale Minderheit anerkannt.
Mit dem Staatsvertrag, der am 20. Februar 2018 zwischen dem Landesverband der bayerischen Sinti und Roma und der Bayerischen Staatsregierung geschlossen wurde, sei ein richtiger Weg eingeschlagen worden, betonten Höhne und Paskowski.
Zuvor hatten die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen schon solche Verträge geschlossen.
Die Sinti sind die einzige nationale Minderheit in Bayern. In der Bundesrepublik gibt es vier anerkannte nationale Minderheiten: Dänen, Sorben, Friesen und Sinti. Thomas Höhne erläuterte die Kriterien für eine Nationale Minderheit. Die Gruppe muss die deutsche Staatsangehörigkeit haben, durch einen eigene Sprache, Kultur und Geschichte verbunden sein und diese bewahren wollen. Die Gruppe muss traditionell in Deutschland beheimatet gewesen sein. Dies alles trifft auf die Sinti in Deutschland zu. Sie leben seit über sechshundert Jahren auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Sie sprechen neben Deutsch noch eine eigene Sprache, das Romanes. Die geschätzten 70.000 in der Bundesrepublik beheimateten sind deutsche Staatsbürger, die eine gemeinsame ethnische Identität teilen. Aber es gibt auch Unterschiede. Die nationalen Roma-Gemeinschaften sprechen mitunter sehr verschiedene Arten des Romanes.
Der Begriff „Zigeuner“ ist eine ins Mittelalter zurückreichende, von Vorurteilen überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsbevölkerung. Wie Höhne ausführte, ist der Begriff untrennbar mit rassistischen Zuschreibungen verbunden, die sich über Jahrhunderte reproduzierten und zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild wurden.
Um gegen solche Feindbilder vorzugehen, sei es wichtig, Kontakt zu Medien zu haben. Leider werde den Sinti- und Roma-Landesverbänden bis heute die Mitgliedschaft in den Landesrundfunkräten verweigert.
Thomas Höhne sprach auch über die Rolle der Sozialarbeit. Hier sei bis vor ganz wenigen Jahren ein sehr paternalistisches Verständnis von Hilfe an der Tagesordnung gewesen. So habe zum Beispiel die Caritas bis zum Beginn der Zweitausender Jahre gebraucht, um anzuerkennen, dass es um Emanzipation gehe. Der „mitleidige Modus“, die die Sinti und Roma wie unselbständige Kinder betrachtete und behandelte, sei mittlerweile abgelegt worden. Auch die Katholische Kirche habe sehr lange gebraucht, um sich allein von Begrifflichkeiten wie „Zigeunermission“ zu lösen und die Minderheit als Handelnde und nicht als zu Behandelnde zu begreifen.
.Die Frage von Zuhörerinnen, die in der Schulsozialarbeit tätig sind und mit Sinti und Roma-Kindern in Kontakt stehen, wie sie sich verhalten sollten, beantworteten beide Referenten in etwa so: Explizit, aber nicht exklusiv helfen. Dies bedeute, Hilfe eindeutig anbieten, aber nicht exklusiv und gruppenspezifisch. Wenn sich Angehörige einer Minderheit nicht ‚outen’ wollten, so sei dies zu respektieren, hätten sie doch gute Gründe dafür.
Roberto Paskowski sagte am Ende der Vorträge, leider habe er sehr oft erlebt, dass Lehrer und Lehrerinnen Kindern von Sinti und Roma sagten, sie bräuchten nicht glauben, dass sie auf weiterführende Schulen könnten. „Du brauchst dir keine Mühe geben, du schaffst das eh nicht.“ hieße es dann.
Thomas Höhne zitierte am Ende seines wissenschaftlichen Vortrags aus einem Interview mit Pfarrer Jozsef Lanko und betonte, dass dieser auf Augenhöhe mit den Roma lebe. Er sei ein würdiger Preisträger.
Ulrike Schurr-Schöpfel, Freie Journalistin